filzstift
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Filzstiftzeichnungen
Paris 1993 –Zürich1997
Eine Unzahl (ca. 3000) kleiner blauer Filzstiftzeichnungen und Ocker-Aquarelle:
EXACOMTA-Hefte 21x14,5cm,
die Hefte sind von 1-50 grün, oben rechts nummeriert,
das erste Blatt jeweils rot-karriert, mit anschliessendem
Durchschlagblatt mit derselben Nummer. Ich habe oft die beiden Blätter zusammengeheftet (21x29cm) und anschliessend die Arbeit nach einem persönlichen System nummeriert: Zuerst Nummer des Heftes, dann Nummer des Blattes, mit Angaben von Kombinationsmöglichkeiten. Das Ordnungssystem hat sich verselbständigt.

Der sechsmonatige Aufenthalt in Paris bestärkte mich im Bedürfnis «die Tatzen zurück zu nehmen» (Marcel Duchamp), d.h. Introspektion und Handschrift zurückzufahren um mehr im und aus dem Moment heraus zu agieren. Der Blick nach aussen. Was heisst Aktualität und Zeitgenossenschaft? Keine (unnötigen) Grübeleien und Schürfungen mehr, möglichst direkt die Wirklichkeit aufnehmen und umsetzen: Die Illusion der Unmittelbarkeit ist schnell aufgedeckt. Die Paradoxie von Oberfläche/Tiefe, Hülle/Substanz lässt mich nicht los. Dennoch fange ich vermehrt an, an der Oberfläche zu schwimmen, mehr im Moment selbst zu bleiben; weniger Kontrolle und Konstruktion, mehr Spiel und Zufall, ich zeichne auf, was mir begegnet, was mich anschaut: Meine eigene Hand, meine Finger, Bild- und Skulpturenfragmente aus dem Louvre, Schädel aus den Museen, spriessende Geranien auf dem Balkon bei Besuchen in Zürich, Männerfragmente, Helme, Konstruktionen, Gefässe. Hüllen und Fragmente überall, Bruchstücke.

Die systematische Sammlung von Fremd-Bildern und Fremd-Texten (Sammlung«Falsche Fährten» wird fortgesetzt. Das ad-absurdum führen der Ordnung der Ordnungsstrukturen wird Teil der Arbeit.

Ocker-Aquarelle ( O.T.)
Das hüllenhafte der Filzstiftzeichnungen, die Radikalisierung der Reduktion, die bewusste Betonung der Künstlichkeit und der Konstruktion provoziert einen «romantischen Rückfall» in der Arbeit an einem „Hauch von Leben“ in Form der Ockeraquarelle weiterzuarbeiten. Hoffnunngslos.
Zugang haben mir die Bemerkungen von Leroi-Gourhan, «Die Religionen der Vorgeschichte» verschafft, in denen er die Anwendung von Ocker in den Wohnstätten der Neanderthaler für eine religiöse Tatsache hält, weil sie nicht aus den Erfordernissen des materiellen Ueberlebens zu erklären ist. Es ist die Lebensenergie selbst, der Atem, die Bewegung des Atems, des Blutes, damit verbunden auch das Lallen, Sprechen, das Rätsel des (Be-)Lebens, des Lebensgeistes.
Die Filzstiftzeichnungen, die oberflächlichen Erkundungen, der distanzierte Blick auf die kristallinen Schädel – die ewigen Todesgedanken- weckt diese Sehnsucht, fordern dieses Gegenüber heraus. Das Geheimnis des Menschen ist dieser Hauch. Wir haben weder vom Tod noch vom Leben eine grosse Ahnung. Die Künstlichkeit, des Versuchs der zeichnerischen Annäherung an Wirklichkeit entlarvt eine grosse Illusion: Die Unmöglichkeit Wirklichkeit abbilden zu wollen. Das Bild ist vielmehr Antwort auf Wirklichkeit – Modell und Echoraum.
Vielleicht lässt sich dieser Lebensgeist nur durch Lücken, Weglassungen, Pausen und Hüllen fassen. Deshalb wohl das Interesse an der grösstmöglichen Reduktion und der bewussten Betonung der Künstlichkeit des Bildes. Dies gilt auch für die Ockerarbeiten: Noch so feine Maschen ergeben letztendlich ein Netz, und dies ist nie die Wirklichkeit selbst , über die das Netz geworfen wird. Mit der Zeit verschwinden die Aquarelle mit der Alterung des Papieres.
Die Arbeit wurde bis jetzt an verschiedenen Ort am Boden ausgelegt, auf Rollen digital ausgedruckt und aufgehängt («Hotel») und eine Sammlung der Arbeiten (Filzstiftzeichnungen, Fremd-Bilder und Fremd-Texte («FF») ist in zwei Bänden in der Edition Marlene Frei erschienen: FAHR ZEUGE & FALSCHE FÄHRTEN 1&2.