Version 10_02_2013
FF240
Kissen & Falten
ab 2001
1290 registrierte Bleistift- Zeichnungen, div. Formate A6, A4, A3, bis 75x100cm
weitere Kissen- und Faltenelemente existieren in den Arbeiten "Vasinar", "Theorie der Falten in einem Kopfkissen", "Joke" und "AA" dazu gehören auch Bilder aus der Serie FB (FremdBilder).
Die FF-Nummerierungen im Text beziehen sich auf das Dokument "Falsche Fährten" unter www.radelfinger.com
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Die ersten Kissen sind das Produkt eines Scheiterns. Sie markieren den Versuch, sich ein Bild von sich selbst machen zu wollen. Eine Anmassung, den Konditionen der Wahrnehmung und der Herstellung eines Selbstbildes auf bildnerische Weise auf die Spur kommen zu wollen; dies kann offensichtlich nur fehlschlagen. Die einzige akzeptable Lösung in diesem Prozess zeigt sich überraschend in den Skizzen der Kissen und Falten, d.h. in der Erkenntnis, dass eine Annäherung nur in der Absenz des Gesichtes, in der Abwesenheit gerade dieses Gesichtes, das noch kurz zuvor auf dem Kissen gelegen hatte, möglich scheint.
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Am Anfang steht also ein Verdacht der Unmöglichkeit der Darstellung (der Repräsentation) - das Reale ist immer etwas Unfassbares, Unsagbares, Unkontriollierbares. Ambivalenz und Paradox: In der Bewegung des Zeigens werfe ich gleichzeitig ein Tuch aus, entziehe dem Betrachter den direkten Blick und lasse ihn im Rätsel(n) zurück: Ein "Verschleierungsprozess". Mir liegt diese Strategie, dieser Widerspruch: Die Möglichkeit der Projektion ins Ungeheuerliche und ins Banale, Komische; die Spannung, die dadurch erzeugt wird; diese doppelte Illusion.
Was bei den Kissen und Falten gezeigt wird, ist ein Bezug, nichts mehr. Das Bild wirft auf sich ein Bild; das Bild wird auf sich zurückgeworfen. Letztendlich bin ich jetzt da angelangt, wo sich das Kissen an den Rand des Zeichenblattes annähert und auf die Umrandung des vorliegenden Zeichenblattes reduziert und damit auf sich selbst verweist. Dieser Prozess ist unbemerkt geschehen, ohne Absicht und ist einer jener (Kipp-) Momente, die mich froh machen...
Vielleicht ist es letztlich die Einsicht, dass das Wesentliche jenseits der Ausdrucksmöglichkeit liegt.
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Michael Glasmeier schreibt in einem Text über die Teppiche von Johannes Vermeer von den Falten als Verkörperung der Willkür; im Gegensatz zur wohl konstruierten Uebersichtlichkeit. Er ordnet die Teppiche in eine Geschichte der "Mehrdeutigkeit" ein. Sie sind in ihrer Geworfenheit und Zufälligkeit künstliche Fata Morganas, Gebirgslandschaften, eine Art Modellbaulandschaften. Die Teppiche sind geworfene Muster und Ornamente, die durch Faltungen uneinsehbar werden – "Nicht-Orte".
Meine Kissen-Recherchen bieten in diesem Sinne keine Erklärungen, noch Gründe oder Ursprünge. Sie sind blosse Orientierungsorientierungen; die Ahnung eines faszinierenden Modells, das sich selbst wieder in Frage stellt. Es ist die Lust mit wenigen Markierungen am «Orientierungslauf» teilzunehmen; ohne Recht zu haben, ohne finden oder gewinnen zu wollen.
Ich möchte den Prozess selbst als Teil der Recherche (der Arbeit) zeigen, in seiner Bewegung, im Suchen und Finden, im Rhythmus, im "Auf und Ab", im "(R)ein und (R)aus", im "Hin und Her", in den Wiederholungen, in den Dreh-, Wende-, und Kippmomenten und in den Zufälligkeiten und Irrwegen. Es geht also darum, diese Bewegung selbst zu vollziehen. Mich interessieren Bewegungsmuster.
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Es ist die Faszination dieser Kissen und Falten, das Staunen über das ewig Gleiche und immer Andere. Immer immer immer wieder wiederholen, holen, wieder immer immer wieder: Wiederholung. Diese Banalität erstaunt, die Grenze zum Manischen erschreckt mich. Gertrude Stein ist mir hier eine treue Begleiterin, immer wieder immer greife ich nach "The Making of Americans" und lese – nach einer langen Pause, nach diesem ersten Satz - immer weiter, immer wieder.
Eines Tages schleifte ein zorniger Mann seinen Vater durch seinen eigenen Obstgarten. "Halt!" rief der stöhnende alte Mann schliesslich,
FF7 Stein Gertrude The Making of Americans Ritter Verlag (Erster Satz S. 9)
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Auch hier bei den Kissen geschieht im Verlaufe des wiederholten (Auf-) Zeichnens, durch den Akt des Zeichnens etwas; ein weiteres Kippmoment, durch das sich das Zeichnen verselbständigt: Die " Linie der Schönheit"(William Hogart), die Schönheit der Linie zeigt sich. Auch für William Black ist die scharfbegrenzte Linie, ihre Autodynamik das schöpferische Prinzip im unmittelbaren Vollzug, und als solches auch der einzige Anker von Identität in einer verfliessenden Erscheinungswelt der reinen Prozessualität. Es ist das Erforschen des Prozesses des Zeichnens selbst und dessen Konditionen.
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Es ist die Faszination dieser Hüllen, Verweise auf Abwesendes, Verborgenes, Nicht-Sichbares, Nicht-Existentes, mit dem "klinische" Blick der Treue zur formellen Hülle des Symptoms: In einem Gespräch mit Ruth Schweikert zu unserem Buch "Hin und Her" taucht der Begriff «Stoff» im Kontext der Frage nach «Inhalt» auf. Ist der «Stoff» im Kontext der Bildnerei eben die Hülle, im Kontext der Kissen eben der Bezug oder Ueberzug? Und was ist dann der "Inhalt", die "Substanz"? ( Der Flaum , die Federn, der Kunststoff?) Ist der "Inhalt"- wie die "Realität" - nicht zu bestimmen, nicht zu benennen und zu begreifen? Was soll hier also eingehüllt werden? Ist etwas gefaltet, um eingehüllt zu werden, um in etwas anderes getan zu werden? Oder ist es nichts?
Das nihil negativum des Lebens ist die Darstellung des Todes, das negative Nichts der Rede das Schweigen. Und, so könnte man ergänzen: das negative Nichts des Bildes ist die Absenz des Bildes. "Von Nichts" zu handeln (oder zu malen), ist eine Kunst.
Stoichita Victor I. (das selbstbewusste Bild, S.331) über "Tractatus philosophicus DE NIHILO" von Schoockius Martinus 1661
Auch Samuel Beckett arbeitet mit der radikalen Reduktion. Sie ist ein Weitermachen in Erschöpfung. Sie ist nicht Protest, nicht Debakel, nicht Nihilismus und nicht Existenzialismus, nicht Expressionismus. Sein Werk hat wie das von Marcel Duchamp oder John Cage die Bejahung zum Thema, die Bejahung der Erschöpfung, der Gewohnheit.
Bewegter Stillstand als künstlerisches Ereignis. Und das ist auch, was Beckett an Komiker interessiert, an Chaplin, Keaton, Valentin oder Dick und Doof; denn hier ist die Erschöpfung ebenfalls zur Form geworden, hat ihre höchste künstlerische Qualität erreicht. Es gilt weiterzumachen. Doch ist bei den Komikern noch zu viel Handlung, zu viel Bewegung. Der Raum ist noch nicht endgültig erschöpft. Er bietet immer noch die Möglichkeit zur Aktion, und er wehrt sich. Beckett dagegen sympatisiert mit der Klarheit der bildenden Künstler, mit ihrer Einsamkeit. Beckett:
"Was wird bei all dem Jahrmarktsrummel aus dieser so einsamen Malerei werden, einsam vor Einsamkeit, die sich das Haupt verhüllt, der Einsamkeit, die Arme ausstreckt."
Katalog Beckett/Naumann S.158
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Durch Zufall habe ich in der NZZ unter Forschung und Technik ein Bild (siehe Fremdbilder), ähnlich einem Kissen entdeckt, mit folgendem Text: "So könnte die grossräumige Struktur unseres Universums aussehen: Durch die Raum-Zeit ziehen sich tiefe Furchen, die auf die Existenz von dunkler Materie hinweisen. In den Furchen sammelt sich heisses Gas; die Galaxien sitzen an den Kreuzungspunkten der Kanäle." Betrachten wir also jedes Kissen als momentaner Zustand des Universums!
Geht es letztendlich in der Kunst um Bilder von der Ordnung des Universums?
Baut die qualitative (künstlerische) Durcharbeitung eines Bild-Gedächtnisses nicht auf den Säulen von «Ausdruck» und «Orientierung»?
X
Das Kissen als Miniatur:
Ich fühle mich wohler in der Welt der Miniatur.
Dies sind für mich überblickbare Welten.
Wenn ich sie erlebe, fühle ich, wie mein träumendes Wesen
Weltschaffende Wellen ausstrahlt.
Die Enormität der Welt ist für mich nur eine grosse Verwirrung der weltschaffenden Wellen.
Die ehrlich erlebte Miniatur dagegen löst mich aus der wirren Umwelt heraus,
sie hilft mir, den auflösenden Kräften der Umgebung zu widerstehen.
FF558_Bachelard Gaston, Poetik des Raumes, Fischer, 2007, S.166
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Mich interessieren visuelle "Programme", "Modellbaulandschaften"(ich denke dabei z.B. an das einheitliche Energiesystem von Jean Piaget,(FF223 und 206), das Knotenmodell von Vilem Flusser(FF18), ich denke im Speziellen an Gilles Deleuze (FF22), an Jean Gebser(FF391) an den poetischen Text von Lawrence(FF354) oder an Fragen zur Intersubjektivität: Was sind die Grenzen des Einzelnen, des Selbst, des Subjekts, ja auch des Autors, der Autorin selbst? (FF393)). Es geht mir dabei, mit Godard gesprochen, weder darum, einen ausgearbeiteten Gedanken zu illustrieren, noch darum über "Bilder" nachzudenken. Vielmehr soll mit den Bildern und ausgehend von ihnen gedacht werden, bis man den Gedanken aus den Bildern selbst hervorgehen sieht. Die Kissen erlauben mir bildnerisch daran zu arbeiten.
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Die kunsthistorischen Bezüge eröffnen sich im Laufe der Recherche: Leonardo da Vincis wunderbare Faltenstudien und seine Visionen der Sintflut und vom Untergang der Welt; Albrecht Dürers Selbstbildniszeichnung mit einem Kissen, auf deren Rückseite noch einmal sechs Kissen erscheinen (1493, Feder, USA, Privatbesitz); die vielen Bilder der heiligen Veronika; die wunderbar gefalteten Bänder in mittelalterlichen Abbildungen; Adolph Menzels "ungemachte Betten" (1845 und 1846), seine Vorliebe für "tote Gegenstände", objects trouvés, die für rätselhaften Ausdruck sorgen, Trugbilder der Wirklichkeit, die von Hintersinn gezeichnet sind. Besonders geeignet scheinen ihm leere Hüllen (hohle Rüstungen, hingeworfene Kleider, leere Austern, Totenschädel, und eben: verlassene Betten – Doppeldeutungen. Wunderbar auch sein "Schlafzimmer des Künstlers in der Ritterstrasse von 1847. Die Teppiche von Johannes Vermeer sind schon angeführt worden. Auch aktuelle Bezüge, z.B. Man Rays "Enigma", Gerhard Richters "Blattecke" 1967, Eva Hesse, Franz Eberhard Walter, Janson Rhoades "The great See Battles of Wilhelm Schürmann (1994-95) tauchen auf – und viele mehr. Nicht fehlen darf der vielfältige literarische Bezug: Vorab "Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon", die interessanten philosophischen Texte von Eva Meyer "Faltsache", Gilles Deleuze "Die Falte"; aktuelle Romane wie "Das Kissen der Jadwiga"
von Pál Závada oder "Die Frau in den Kissen" von Brigitte Kronauer.
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Immerzu Falte in der Falte. Eine Falte zwischen den zwei Falten.
Ist es die Falte, die in der Falte eingehüllt werden will? Oder ist es letztendlich, die Leere, der Zwischenraum? So wie die "Wörter" bei John Cage, die für uns erst die Stille erzeugen helfen:
"Aber nun................................ gibt es ....Stille......................... und die Wörter.............erzeugen sie, ............. helfen mit.....................diese Stille zu erzeugen........"(FF47)
Es beginnt mit der radikalen Absage an die Tiefe und dem Insistieren auf der Oberfläche. Der Ansatz ist begreifbar nach dem Bild des menschlichen Körpers, das der Kulturwissenschafter Marc C. Taylor unter Bezug auf die Embryologie entwickelt hat. Nach diesem Bild entsteht und wächst der Körper ab ovo, also ab der ersten Zelle durch eine beständige Einstülpung und Einfaltung seiner Oberfläche, ein Prozess, der nach und nach zur Ausbildung von differenzierten Zellen, Knochen und Organen führt. Alles am Körper also ist Haut, alles ist Oberfläche.
Hauser Susanne, die Haut als Zwischenraum, in Topos RAUM, Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2006, S. 317
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Die Kissenarbeit ist im Grunde eine "philosophische" Arbeit (siehe FF451). Bar jedes aktuellen und wissenschaftlichen Bezugs und des Weltgeschehens führt sie mich im Bildnerischen an die zentralen Fragen: Wie formt eine Linie einen Gegenstand? Wie entsteht eine Spur? Wie entsteht Bedeutung? Ja, die unentscheidbare Frage: Was ist der Grundimpuls der kreativen und künstlerischen Arbeit?
Die Zeichnung als notwendige Randerscheinung gerät hier an ihren eigenen Rand, auch an den Rand der Zeit: Die Kissen sind unzeitgemässe Markierungen.
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Die Kissen sind mit dem einfachsten Mitteln (Grafitstiftes auf Papier) gehalten: Ich möchte jeden kunst-handwerklichen Anflug vermeiden und die Zeichnung soweit wie möglich radikalisieren- das heisst vielleicht auch überwinden. Es geht also nicht um Könnerschaft um Virtuosität; und das hat nichts mit dem Schönheitsbegriff zu tun.
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In der Ausstellung im Kunstmuseum Bern wurden die Kissen in einem medialen Transfer gezeigt. Nicht die Originale konnten die BesucherInnen sehen (registrierte Bleistift- Zeichnungen, div. Formate A6, A4, A3, bis 75x100cm), sondern eine Rauminstallation mit einem Plotter, der kontinuierlich Kissen auf einer Rolle (Breite ca. 100cm, Länge noch unbestimmt) ausspuckte. Die Bahnen der ausgedruckten Kissen füllten allmählich in ihrer Geworfenheit und Zufälligkeit (Faltenhaufen) den Raum. So sehe ich die Präsentationsform speziell im Kunstmuseum Bern, als installativen , "gefalteten" Raum, als Raumplastik, in der die Recherche als offener Prozess spürbar ist und sich in einer weiteren Dimension fortsetzt.
Mich interessiert der heutige postmediale Zustand, der durch die Gleichwertigkeit der Medien und das Mischen der Medien definiert ist. Was verändert sich durch diesen medialen Transfer, was entsteht neu durch diese Uebergänge?
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Mich treibt der Gedanke um, dass alle Kissen im Grunde ein Bild dahinter schützen: Wundersame Bilder, langweilige Bilder, Katastrophenbilder, fragile Embryos, Banalitäten, Monstruositäten, Perversionen, Auswüchse, Meisterwerke,...? Oder vielleicht schützt das Kissen das Bild vor "Inhalt", vor Ueberfrachtung. Vielleicht steckt gar nichts dahinter. Oder vielleicht ist es auch eine Art Airbag für den Betrachter, die Betrachterin: Frei nach der Warnung Leonardo da Vincis:
FF367 Bredekamp Horst über Leonarde da Vinci im Gespräch mit dem verhüllten Bild
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Die Falten als Einschreibung: Plötzlich zeigen sich die Falten als Zeichnung der Schrift, der Schriftzeichen. In kurzer Zeit entstehen Kissen mit (unleserlichen) Inschriften wie "immer/immer wieder/wiederholen/ wieder holen/ Wort/ Ort/ denken denken/ gut leben/endlos/ Scham/Sex/Trauer/Tränen/Ruhe/Tod/tot/und/ als ob/Nichts/leer /Angst/Schriftfeld..."
Das Experiment - Wortzeichen zu schaffen und durch Zeichnung zu Worten zu kommen- interessiert mich.
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Zum Schluss jetzt (vorläufig) die "ungezeichneten Kissen", "reine" Kissen, spurlos (fast); nichts oder zumindest wenig, hin zu nichts.
Dieser Prozess führt mich letztendlich zu "Kissenzeichnungen", die reine Aufzeichnungen oder Markierungen des Blattes sind und nur noch den Blattrand bezeichnen. Diese Zeichnungen thematisiert sich selber, die "Form" wird zum "Inhalt", ist damit identisch – nichts mehr.
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Das Mannigfaltige und Fragmentarische meiner Arbeit führt mich immer wieder (und auch jetzt im Kontext der Kissen & Falten) zur Frage, was im Moment des kreativen Prozesses passiert, wie Dinge, die so weit auseinander scheinen, zusammenkommen.
Deleuze Gille L'Abécédaire; Interviews mit Parnet Claire: Abschrift aus Ausschnitten des Buchstabens N (Neurologie/Gehirn); DVD's Zweitausendundeins, ISBN 978-3-89848-957-7
Was geht vor im Kopf von jemandem, wenn er eine Idee hat? Was geht da vor sich? Wie kommuniziert etwas im Inneren des Kopfes?...
Ich meine: Zwei Nervenenden im Gehirn können durchaus Kontakt zueinander aufnehmen. Nichts anderes bezeichnet man als die elektrischen Prozesse in den Synapsen. Und dann sind da noch andere Fälle, weitaus komplexere möglicherweise, wo es diskontinuierlich abläuft und eine Spalte übersprungen werden muss. Und ich habe den Eindruck, das Gehirn ist voller Verwerfungen, und es macht Sprünge in ein probablistisches System. Es bestehen Wahrscheinlichkeitsverhältnisse zwischen zwei Verknüpfungen, es geht viel, viel ungewisser zu... Sehr, sehr ungewiss. Die Kommunikationsvorgänge in ein und demselben Gehirn sind von Grund auf ungewiss, unterliegen Wahrscheinlichkeitsgesetzen.
...Eine Sache hat mich schwer beeindruckt...von dem die Physiker häufig Gebrauch machen unter der Bezeichnung Bäcker-Transformation: Du nimmst so ein Quadrat aus Teigmasse, ziehst es zu einem Rechteck auseinander, klappst um, ziehst es wieder auseinander usw. – so machst du deine Transformationen. Und nach der x-ten Transformation...werden zwei ursprünglich eng beieinander liegende Punkte...im Gegenteil zwangsläufig sehr, sehr weit entfernt liegen. Und alle noch so entfernten Punkte werden nach der x-ten Transformation eng beieinander liegen.
Und wenn man in seinem Kopf nach etwas sucht, kommt es da nicht auch zu solchen Durchmischungen? Wo zwei Punkte, die im Moment... in dem Moment, in dem Stadium meiner Idee...da sind zwei Punkte, ich weiss nicht, wie ich sie miteinander kommunizieren lassen soll, und dann, nach hinreichend Transformationen, zack: liegen sie beieinander
...
Was für das Gehirn und die Ideenproduktion im Kopf gilt, lässt sich auch für das produktive "Denken" in und mit Bildern vollziehen. Der Transformationsprozess bringt unwahrscheinliche Situationen zustande und umfasst (nach Deleuze) sowohl Perzepte (bildnerische Konzepte), Begriffe (sprachliche Konzepte), und Affekte (was Deleuze dem Musikalischen zuordnet), die sich in steter Wechselwirkung befinden.
Diese Konstellationen, Gefüge und Gemenge, spiegeln sich m.E. im Modell der unendlichen Faltungen und Variationen. Das Modell der Falte korrespondiert auf faszinierende Weise mit den Prozessen des Denkens und den kreativen Prozessen - es bleibt ein Modell!
Wie überraschend klären sich dadurch Arbeiten z.B. u.a. von Anna Oppermann oder Armand Schulthess, von Aby von Warburg (sein spätes Mnemosyne-Projekt, jenem "Atlas der Bildwanderungen", mit dessen Hilfe er die Kunst als genuines Erinnerungs-Organ der Menschheit "aufzufangen" und zu veranschaulichen suchte...siehe auch FF 559-562).
Wolfgang Kemp hat als erster darauf aufmerksam gemacht, dass Aby Warburgs kommentarlose Präsentation von beträchtlichen Mengen historischer Information den surrealen Montageverfahren nahe steht. Er vergleicht Warburgs Atlas mit einem anderen herausragenden (und ebenfalls unvollendeten) Montageprojekt der 20er Jahre: Walter Benjamins Passagen-Werk, das als eine textliche "Assemblage" den Versuch unternahm, analytische Erinnerung an die kollektiven Erlebnisformen des ausgehenden 19.Jahrhunderts in Paris zu rekonstruieren.
In Theodor W. Adornos Beschreibung der Charakteristika des Passagen-Werks sind unschwer die Grundzüge von Warburgs Mnemosyne Atlas erkennbar: "Benjamins Absicht war es, auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Montage des Materials hervortreten zu lassen... Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen."
FF426 & FF553
(Kurzform:
Walter Benjamins Absicht war es in seinem unvollendeten Montageprojekt der 20er Jahre, dem Passagen-Werk, auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Montage des Materials hervortreten zu lassen... Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen.
FF426)
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In Heinz von Foersters Büchlein «KybernEthik» findet sich die Geschichte des Kater Murr von E.T.H. Hoffmann. Der Kater schreibt seine Biografie auf geklaute Blätter seines Meisters Abraham. Beim Druck der Biografie stellt sich nun heraus, dass z.T. die Rückseiten mit physikalischen Problemen des Meisters belegt sind. Der Drucker bemerkt dies aber zu spät, und so vermischen sich die Lebensgeschichte des Katers, mit Problemen der Physik und der Welt der Unterhaltung, die den Meister beschäftigen: Notizen zur Konstruktion von Springbrunnen, Wasserspiele und weitere Automaten.
FF155 Heinz von Foerster, «KybernEthik», Merve 180 S. 19 ff
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Jacques Lacan benutze in seinen letzten Jahren visualisierende Praktiken, um sein eigenes Denken zu entwickeln.
Vorbild in Sachen Visualisierungen war ihm das Gesamtwerk seines "einzigen" Lehrers Gaëtan Gatian de Clérambault (1872-1934), seiner Kunst des Sehens und des Sichtbarmachens, insbesondere seine Devise als Psychiater und Künstler:"Treue zur formellen Hülle des Symtoms".
Clérambault war französischer Psychiater, Ethnologe und Fotograf. Clérambault, der während der Gefechte 1914 an der deutschen Front spektakuläre Fotos schoss, wurde während der Kampfhandlungen schwer verwundet und zur Erholung nach Marokko geschickt. Dort nahm er mehr als tausend Fotos der einheimischen Bevölkerung auf. Vor allem interessierten ihn die stoff- und faltenreichen Gewänder der Marokkanerinnen, von denen er detaillierte Aufnahmen machte.
Der vom Außenweltdenker G.G. de Clérambault inspirierte Jacques Lacan hat mir seinen Skizzen zu borromäischen Knoten - zufällig oder tychisch - ein Kunstwerk geschaffen: eine Erscheinung, die kraft ihrer Erscheinungshaftigkeit mehr bedeutet (sehen läßt und verbirgt, spricht und selber blickt), als sie vielleicht bedeuten soll oder will. Er realisiert eine Perspektive, die über Psychologie und Therapie weit hinausgeht.
Somit verspürt jeder Körper alles, was in der Welt geschieht, so dass jemand, der alles sieht, in einem jeden einzelnen lesen könnte, was überall geschieht und sogar, was geschehen ist oder geschehen wird, indem er in dem Gegenwärtigen das nach Zeit und Ort Entfernte bemerkt....Aber eine Seele kann in sich selbst nur das deutlich Vorgestellte lesen; sie kann nicht auf einen Schlag auseinanderlegen, was in ihr zusammengefaltet ist;
FF24 G.W. Leibniz, Monadologie, Reclam 7853, S. 27 (Ausschnitt aus Nr. 61)
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So wird das Chaos durchquert; es wird nicht erklärt oder interpretiert; sondern durchquert, Stück für Stück, entlang einer Route, die die Ebenen, Landschaften und Ortbestimmungen anordnet, aber die hinter sich das Chaos sich wieder schliessen lässt, wie das Meer hinter im Kielwasser eines Schiffes.
Zu Peter Radelfingers Arbeit Kissen und Falten
Eine Handvoll Gedanken zu 1009 Kissen
Ruth
Schweikert
Auftauchen aus dem Schlaf und nicht in den Spiegel schauen, um sich zu vergewissern, dass man noch da ist, die Zähne, der Mund, die Haut wie Pergament um die Augen, stattdessen einen Stift in die Hand nehmen, ein Blatt Papier und das Kissen ins Visier, wie es daliegt auf dem Bett, ein wenig verloren vielleicht, knapp körperwarm noch von der kurzen Nacht oder der ausgedehnten Siesta in der südfranzösischen Sommerhitze. Zeichnen, abzeichnen, was man sieht, und gleichzeitig zusehen, wie sich die Zeichnung in der Geste des Zeichnens vom Abgezeichneten löst. Darüber Erleichterung empfinden oder so etwas wie Freiheit. Am nächsten Morgen dasselbe tun, am übernächsten, drei Wochen später.
Was hat man auf dem Kissenbezug zurückgelassen, von blossem Auge nicht erkennbar oder doch kaum: Bakterien, Viren, ein paar Schweisstropfen, abgestorbene Hautzellen, einen Hauch Aftershave oder Feuchtigkeitscreme, eine einzelne Wimper vielleicht. Sichtbar dagegen die Stoffoberfläche: Mulden und Falten, die vom Gewicht des eigenen Kopfes zeugen und von seiner Form, von den nicht rekonstruierbaren Bewegungen, die er im Schlaf oder in der Schlaflosigkeit vollzogen hat.
Innehalten. Und dann, je länger man sich in die Kissenlandschaft vertieft, in ihre unzähligen Kleinstflächen, ihre verschatteten Täler, Abhänge, Lichtseen und spitze Höhen, in die Fältchen und Faltenwürfe, die vielleicht gar ein Stück Stoff verbergen, umso näher rückt die Vorstellung, das Kissen sei mehr als ein möglicher Indizienträger für Kriminalisten, es konserviere womöglich gar Spuren der Träume, der Sehnsüchte und Nachtmahre, denen man eben erst mühsam entflohen ist; ja die verlorene Zeit selbst, die ich im Schlaf zurückgelassen habe, müsse im Kissen gespeichert sein, bilde ich mir ein und verspüre plötzlich den Impuls, dieses Kissen aufzubewahren, es haltbar zu machen, es in Kunstharz zu giessen und auszustellen und damit auch seine Geschichte; all die Geschichten, die es erzählen könnte.
Das eigene Kissen als Spiegelbild, in das man sich verliebt, wie Narziss sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat.
Ein gutes Gewissen ist das beste Ruhekissen, weiss der Volksmund, und so werden manche Leute nicht müde, zu betonen, wie gut und tief sie schlafen; Politikerinnen beispielsweise oder Konzernchefs, nachdem sie ein paar hundert Leute entlassen mussten – als beglaubige eine hervorragende Schlafqualität schon die moralische Integrität einer Person. Wie also präsentierten sich wohl die Kopfkissen, die George W. Bush während seiner achtjährigen Amtszeit benutzt hat, und wie diejenigen eines Adolf Hitler oder Josef Stalin? Wie deins und meins natürlich, ein dreidimensionales Etwas - und dennoch fänden sich nicht zwei absolut identische Kissen, kämen eines Morgens alle Kissenbenutzer dieser Welt auf die Idee, ihre Kopfkissen mit einer hochauflösenden Kamera abzufotografieren und die entstandenen Bilder auf Facebook oder Flickr zu präsentieren. Diese Kissenbilder unterschieden sich voneinander ebenso eindeutig wie sich die Fingerabdrücke, reale oder genetische, verschiedener Menschen voneinander unterscheiden. Jedes Kissen ein Original.
Im Gegensatz zu Fingerabdrücken allerdings liessen sich diese Kissenbilder beim besten Willen nicht einem bestimmten Individuum zuordnen – das 386. Kissen muss Peter Radelfinger gehören, nur er kriegt dank seines linken Ohrläppchens diese Falte an exakt dieser Stelle exakt so hin; das 529. ist eindeutig Ruth Schweikerts Kissen; davon zeugt die Ausbuchtung in der rechten oberen Ecke, schläft sie doch stets mit einem Tennisball, den sie unter das Leintuch schiebt; - ihre Einzigartigkeit, könnte man sagen, hat keine Bedeutung, weil wir sie nicht zu lesen vermögen. Zwar verweist sie auf ihre eigene Geschichtlichkeit, aber sie erzählt keine Geschichte. Vielleicht sollten wir präzisieren: sie gibt sie nicht preis.
An diesem Punkt beginnt der Weg, den Peter Radelfinger mit seiner Arbeit „Kissen und Falten“ im Jahr 2000 in Angriff genommen hat und der sich einem (vorläufigen) Endpunkt zu nähern scheint. Natürlich ist die Formulierung falsch, hat der Künstler doch kein definierbares Projekt in Angriff genommen, sondern er ist einem Impuls gefolgt, einer Verzweiflung vielleicht, die ihn erst über das Scheitern am Selbstbildnis hinausführte. Das Scheitern als notwendiger Vorgang, das Eingeständnis des Scheiterns als unhintergehbare Voraussetzung für den nächsten Schritt. Hatte er sich im Zyklus „Vasinar“ im weitesten Sinne mit der eigenen Geschichte, dem eigenen Gesicht und seinem Körper beschäftigt, bestand die „Lösung“ im doppelten Wortsinn darin, sich davon zu verabschieden und mit eben der Absenz, der Abwesenheit des eigenen Körpers zu arbeiten. Gerade eben lag der Kopf noch auf dem Kissen, jetzt ist er zum Wahrnehmungsinstrument geworden, das seine eigene Abwesenheit betrachtet und bedenkt.
Daraus könnte leicht ein Gestus des Trauerns erwachsen; gebeugt über die eigene Abwesenheit, würde dem Künstler das leere Kissen zur „Nature Morte“, zur bekannten Chiffre der Vergänglichkeit.
Das ist Radelfingers Sache nun ganz und gar nicht; allein schon das Medium der Zeichnung macht es deutlich: Die Zeichnung konserviert nicht und sie imitiert nicht. Sie verweist auf etwas und lässt es dabei bewenden. Wichtiger als das, worauf sie verweist, ist ihr Verweischarakter an sich.
Zeichnen. Keine Skizzen anfertigen für das endgültige Bild, keine Vorstellung einer Zeichnung, die gültiger wäre als die vorangegangene und die kommenden, einzig dem Gestus verpflichtet, dem nächsten Impuls. Nicht verstehen wollen, was und warum man etwas getan hat, sondern das Nichtverstehen als Forschungsauftrag annehmen, der nicht zu einem Ergebnis führt, sondern zu tausenundneun Ergebnissen, die alle gleichermassen vorläufig und gleichermassen wahrhaftig sind. Nicht die Wahrheit suchen, sondern wahrhaftig suchen.
1009 Kissen hat Peter Radelfinger für diese Ausstellung gezählt, einige Kissen mehr hat er im Laufe der letzten acht Jahre gezeichnet, und wie der Zufall es will, ist 1009 eine Primzahl, kann also ohne Rest nur durch 1 und sich selber geteilt werden. Die Zahl 1009 ist also spezifisch und speziell, doch darin eine Bedeutung sehen zu wollen, wäre vermessen, handelt es sich doch weder um eine definiert abgeschlossene Arbeit noch ist sie in ihrer Vorläufigkeit vollständig, sind doch einzelne Zeichnungen unauffindbar verloren, andere verkauft oder sie haben in einer anderen Arbeit Unterschlupf gefunden. Die Anzahl ist zufällig und soll weniger eine Ordnung behaupten im Sinne von „seht her, das ist der Zeitenlauf, das ist Entwicklung“ als vielmehr auf die potentielle Unendlichkeit d.h. Unabschliessbarkeit, Unvollendbarkeit jeder künstlerischen Arbeit verweisen.
Dabei gibt es durchaus Entwicklungen; von Kissen, die sich gebärden wie Kissen zu Kissen, die sich gebärden wie Tiere, zu Kissen, die sich wie Schriftzeichen verhalten, zu Kissen, die zur blossen Grenzziehung verflachen, zum Nachfahren des Blattrands, als wollten sie sagen, jetzt ist genug, du hast ausgezeichnet; Kissen, die erahnen lassen, dass sich darunter etwas verbirgt, was eben nicht gezeichnet werden kann und auch nicht gezeigt werden soll. Von der Sehsucht, das eigene Abbild ex Negativo zu erfassen, zum Akzeptanz der Nichterzählbarkeit. Nicht das Abbild der Absenz interessiert Peter Radelfinger in diesem Zyklus, sondern die Unmöglichkeit jeglichen Abbilds, die er nicht beklagt, sondern in der er sich einrichtet. Die Unmöglichkeit wird ihm zum einzig möglichen Aufenthaltsort: Nicht das Geschichtenerzählen interessiert ihn (mehr), sondern die Unmöglichkeit, es zu tun; nicht die verlorene Zeit zurückzuholen interessiert ihn, sondern die Unmöglichkeit, es zu tun. Interesse heisst im Wortsinn: Dazwischen sein.
Es ist jenes Dazwischen, in das hinein in der Installation im Kunstmuseum Bern ein Plotter die zuvor abfotografierten Kissenbilder Bild um Bild ausspuckt, die sich, stelle ich mir vor, mit der Zeit alle übereinander legen zu einem schwarzen Quadrat, das natürlich keine exakte geometrische Form ist, sondern in seiner Struktur dem Universum gliche, wie Peter Radelfinger es in der NZZ gefunden hat. Die Bildlegende dazu lautet: „Durch die Raum-Zeit ziehen sich tiefe Furchen, die auf die Existenz von dunkler Materie hinweisen. In den Furchen sammelt sich heisses Gas: die Galaxien sitzen an den Kreuzungspunkten der Kanäle.“
Betrachten Sie also jedes Kissen als momentanen Zustand des Universums.
Ob hier durch die Hintertür doch wieder so etwas wie Geschichten hereinschauen? Ausdenken und erzählen müssten wir sie uns selber.